Der Anhalter

Heute morgen habe ich einen Anhalter mitgenommen. Er stand allerdings gar nicht an der Straße, sondern an meiner Tür. Und nicht an der Haustür, sondern seltsamerweise bereits an der Schlafzimmertür.
„Morgen“, sagt er „fährst du vielleicht nach Bielefeld?“
Ich fahre vom Bett hoch und frage schlaftrunken: „Was?“
„Die Tür stand offen, fährst du nun nach Bielefeld oder nicht?“
„Schon“, sage ich zögernd.
„Prima, dann warte ich am Auto, bis gleich!“
Vielleicht ein Nachbar, denke ich, und steige aus dem Bett, um mir die Zähne zu putzen. Anziehen, Kaffee. Tasche packen. Dann zum Auto. Ach ja, da war ja was.
Ich drücke auf die Fernbedienung und sage: „Ist offen!“
Der Anhalter steigt ein. Ich steige ein und versuche noch einmal die Sache mit der Tür zu klären.
„War offen“, sagt er. Kurze Pause, dann er wieder: „Sag mal, und du bist gläubig, oder warum klebt da ein Fisch am Auto?“
„Ein Fisch?“, frage ich. „Bei mir am Auto? Das kann eigentlich nicht sein. Aber stimmt schon, das mit dem Glauben und so nehme ich durchaus ernst.“
Er verdreht stöhnend die Augen.
„Was denn?“ frage ich.
„Dann glaubst du so Sachen wie, dass die Welt vor 6.000 Jahren von Hand geformt wurde, oder was?“
„Jetzt nicht unbedingt von Hand geformt, auch nicht vor 6.000 Jahren, aber dass die Welt bezweckt ist, wirst du doch nicht abstreiten können?“
„Eigentlich schon“, sagt er, „und homophob bist du auch?“
„Das würde ich so nicht stehen lassen wollen.“
„Das Schicksal von schwangeren Frauen geht dir aber schon am Arsch vorbei?“
„Auch das würde ich von mir weisen!“
„Und Klimaschutz, egal oder, wenn dieser Jesus eh bald wiederkommt?“
„Sag mal“, sage ich, „irgendwie hast du schon viele Vorurteile, oder?“
„Hab ich nicht.“
„Find ich schon!“
„Ich hab kein einziges Vorurteil, ich bin dein Vorurteil!“
Ich schaue ihn irritiert an.
„Du bist was?“
„Behalte den Verkehr im Auge!“ ermahnt er mich.
„Du bist was?“, wiederhole ich meine Frage.
„Ich bin all das, was du denkst, das die Leute denken. Dein Vorurteil, also.“
„Das ist verrückt“, sage ich, „das heißt, dich gibt es gar nicht?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, strecke ich meine Hand nach ihm aus, die ins Leere greift.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, sage ich.
„Das hängt ganz davon ab, was du unter Wahrheit verstehst, aber ja, ich gebe zu, die ganze Situation ist ein wenig skurril.“
Unser Gespräch wird von zwei Personen unterbrochen, die plötzlich vor uns auf der Straße sitzen.
„Auch das noch, Klimakleber!“ rufe ich und trete auf die Bremse. Wenige Meter vor ihnen komme ich zum Stehen, hupe und warte.
Ich schaue mein Vorurteil an, das augenscheinlich vergnügt die Klimakleber angrinst. Mein Blick wechselt hin und her, vom Vorurteil auf die Klimakleber und wieder zurück zum Vorurteil, das sein Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht bekommt.
„Aber, Moment mal“, sage ich, „wenn du mein Vorurteil bist, wer sagt denn, dass die beiden da echt sind? Ich meine, so blöd kann doch keiner sein, sich einfach so auf die Straße zu kleben. Ich wette mit dir, die sind auch nur ein Vorurteil und da sitzt gar keiner!“
Abrupt steige ich aus dem Wagen und schreie: „Verpisst euch aus meinem Kopf, ihr Arschlöcher!“
„Hä?“, fragt der an den Asphalt angepappte langhaarige Mittzwanziger.
„Nix Hä“, sage ich und trete ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein, „raus aus meinem Kopf!“
„Aua!“ schreit er auf und die Frau neben ihm: „Sag mal, spinnst du!“
„Und ob“, sage ich, „aber damit ist jetzt Schluss, ihr könnt euch verpissen, genauso wie der da!“
Ich zeige in Richtung Auto, aber wo ich mein Vorurteil vermutet habe, steht plötzlich ein Polizist, der mich mit einer Hand am Pistolenhalfter nervös beobachtet.
„Geht`s ihnen gut?“ fragt er mich.
„Ich weiß nicht“, sage ich wahrheitsgemäß, „diese Leute, irgendetwas stimmt hier nicht!“
„Da haben Sie wohl Recht“, redet der Polizist behutsam auf mich ein, „aber vielleicht stimmt mit Ihnen auch etwas nicht. Wissen Sie, vielleicht kommen Sie kurz mit, damit wir einfach mal reden können.“
Im Polizeiwagen fängt der Polizist an, mir Fragen zu stellen. Zur Person, Familienstand, Beruf, Religionszugehörigkeit.
„Evangelisch“, sage ich, „aber dem Herzen nach auch ein wenig katholisch, mit Sympathien für die Pfingstkirche. Sie müssen wissen, dass ich durchaus gläubig bin!“
„Gläubig, was? Und deswegen treten Sie anderen schon mal gerne vors Schienbein?“
„Aber das hat doch damit nichts zu tun“, entgegne ich empört.
„Natürlich nicht!“ sagt er und verdreht stöhnend die Augen.

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