Der Anhalter

Heute morgen habe ich einen Anhalter mitgenommen. Er stand allerdings gar nicht an der Straße, sondern an meiner Tür. Und nicht an der Haustür, sondern seltsamerweise bereits an der Schlafzimmertür.
„Morgen“, sagt er „fährst du vielleicht nach Bielefeld?“
Ich fahre vom Bett hoch und frage schlaftrunken: „Was?“
„Die Tür stand offen, fährst du nun nach Bielefeld oder nicht?“
„Schon“, sage ich zögernd.
„Prima, dann warte ich am Auto, bis gleich!“
Vielleicht ein Nachbar, denke ich, und steige aus dem Bett, um mir die Zähne zu putzen. Anziehen, Kaffee. Tasche packen. Dann zum Auto. Ach ja, da war ja was.
Ich drücke auf die Fernbedienung und sage: „Ist offen!“
Der Anhalter steigt ein. Ich steige ein und versuche noch einmal die Sache mit der Tür zu klären.
„War offen“, sagt er. Kurze Pause, dann er wieder: „Sag mal, und du bist gläubig, oder warum klebt da ein Fisch am Auto?“
„Ein Fisch?“, frage ich. „Bei mir am Auto? Das kann eigentlich nicht sein. Aber stimmt schon, das mit dem Glauben und so nehme ich durchaus ernst.“
Er verdreht stöhnend die Augen.
„Was denn?“ frage ich.
„Dann glaubst du so Sachen wie, dass die Welt vor 6.000 Jahren von Hand geformt wurde, oder was?“
„Jetzt nicht unbedingt von Hand geformt, auch nicht vor 6.000 Jahren, aber dass die Welt bezweckt ist, wirst du doch nicht abstreiten können?“
„Eigentlich schon“, sagt er, „und homophob bist du auch?“
„Das würde ich so nicht stehen lassen wollen.“
„Das Schicksal von schwangeren Frauen geht dir aber schon am Arsch vorbei?“
„Auch das würde ich von mir weisen!“
„Und Klimaschutz, egal oder, wenn dieser Jesus eh bald wiederkommt?“
„Sag mal“, sage ich, „irgendwie hast du schon viele Vorurteile, oder?“
„Hab ich nicht.“
„Find ich schon!“
„Ich hab kein einziges Vorurteil, ich bin dein Vorurteil!“
Ich schaue ihn irritiert an.
„Du bist was?“
„Behalte den Verkehr im Auge!“ ermahnt er mich.
„Du bist was?“, wiederhole ich meine Frage.
„Ich bin all das, was du denkst, das die Leute denken. Dein Vorurteil, also.“
„Das ist verrückt“, sage ich, „das heißt, dich gibt es gar nicht?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, strecke ich meine Hand nach ihm aus, die ins Leere greift.
„Das darf doch nicht wahr sein!“, sage ich.
„Das hängt ganz davon ab, was du unter Wahrheit verstehst, aber ja, ich gebe zu, die ganze Situation ist ein wenig skurril.“
Unser Gespräch wird von zwei Personen unterbrochen, die plötzlich vor uns auf der Straße sitzen.
„Auch das noch, Klimakleber!“ rufe ich und trete auf die Bremse. Wenige Meter vor ihnen komme ich zum Stehen, hupe und warte.
Ich schaue mein Vorurteil an, das augenscheinlich vergnügt die Klimakleber angrinst. Mein Blick wechselt hin und her, vom Vorurteil auf die Klimakleber und wieder zurück zum Vorurteil, das sein Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht bekommt.
„Aber, Moment mal“, sage ich, „wenn du mein Vorurteil bist, wer sagt denn, dass die beiden da echt sind? Ich meine, so blöd kann doch keiner sein, sich einfach so auf die Straße zu kleben. Ich wette mit dir, die sind auch nur ein Vorurteil und da sitzt gar keiner!“
Abrupt steige ich aus dem Wagen und schreie: „Verpisst euch aus meinem Kopf, ihr Arschlöcher!“
„Hä?“, fragt der an den Asphalt angepappte langhaarige Mittzwanziger.
„Nix Hä“, sage ich und trete ihm mit voller Wucht gegen das Schienbein, „raus aus meinem Kopf!“
„Aua!“ schreit er auf und die Frau neben ihm: „Sag mal, spinnst du!“
„Und ob“, sage ich, „aber damit ist jetzt Schluss, ihr könnt euch verpissen, genauso wie der da!“
Ich zeige in Richtung Auto, aber wo ich mein Vorurteil vermutet habe, steht plötzlich ein Polizist, der mich mit einer Hand am Pistolenhalfter nervös beobachtet.
„Geht`s ihnen gut?“ fragt er mich.
„Ich weiß nicht“, sage ich wahrheitsgemäß, „diese Leute, irgendetwas stimmt hier nicht!“
„Da haben Sie wohl Recht“, redet der Polizist behutsam auf mich ein, „aber vielleicht stimmt mit Ihnen auch etwas nicht. Wissen Sie, vielleicht kommen Sie kurz mit, damit wir einfach mal reden können.“
Im Polizeiwagen fängt der Polizist an, mir Fragen zu stellen. Zur Person, Familienstand, Beruf, Religionszugehörigkeit.
„Evangelisch“, sage ich, „aber dem Herzen nach auch ein wenig katholisch, mit Sympathien für die Pfingstkirche. Sie müssen wissen, dass ich durchaus gläubig bin!“
„Gläubig, was? Und deswegen treten Sie anderen schon mal gerne vors Schienbein?“
„Aber das hat doch damit nichts zu tun“, entgegne ich empört.
„Natürlich nicht!“ sagt er und verdreht stöhnend die Augen.

Bierdeckel-Gespräche: Das Vaterunser

Warum sagen wir eigentlich Vaterunser und nicht Mutterunser?

Vielleicht ist es unnötig, dies extra zu erwähnen, aber natürlich ist Gott weder Mann noch Frau. Dass wir ihn „Vater“ nennen hat somit nichts mit seinem Geschlecht zu tun, sondern mit der Rolle, die ihm zufällt. Warum es diejenige des Vaters und nicht der Mutter ist, hängt vermutlich mit dem patriarchalisch geprägten Weltbild der damaligen Zeit zusammen. Trotzdem halte ich persönlich am Vater fest, und das liegt daran, dass das Vaterunser ein im wahrsten Sinne des Wortes heraus-forderndes Gebet ist, indem es z.B. von uns verlangt, unseren Nächsten zu vergeben so wie Gott uns vergibt. Das deckt sich mit dem klassischen Rollenverständnis, nach welchem es eher der Vater ist, der uns abverlangt, über uns selbst hinauszuwachsen, während die Mutter eher diejenige ist, die uns bestätigt. Hat das Kind zum Beispiel ein Bild gemalt, dann neigt die Mutter eher dazu, das Kind zu loben, wie toll es das gemacht hätte, während der Vater seine Korrekturen einbringt, was es beim nächsten Mal besser machen könnte. Demgemäß bete ich das Vaterunser zum Vater, um mich korrigieren zu lassen, aber das kann und will ich nur, weil mir zuvor die mütterliche Liebe Gottes begegnet ist, die mich in dem bestätigt, was ich bin.

Der du bist im Himmel – ist Gott nicht ebenso auf der Erde?

Gott ist natürlich überall. Und gleichzeitig ist Gott auch nirgendwo. Denn Himmel und Erde sind ja nur von Gott geschaffene Räume, in denen Gott zwar präsent ist, die ihn aber nicht begrenzen. Und deswegen würde ich auch nicht sagen, dass im Vaterunser der Ort näher beschrieben wird, an dem Gott sich aufhält, sondern die Seinsweise wie Gott da ist. Der Himmel ist demnach ein Ort, an dem Gott genauso sein und wirken kann wie es seinem Wesen entspricht. Wenn es später heißt „Dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erden“, dann bedeutet dies, dass die Erde nach dem Vorbild des Himmels umgeformt werden soll, damit nichts und niemand, weder Menschen noch Strukturen, dem Willen Gottes zuwiderlaufen und Gott auf dieselbe Weise präsent sein kann wie er im Himmel präsent ist.

Geheiligt werde dein Name – was heißt das?

In der hebräischen Kultur gibt der Name eines Menschen immer auch Auskunft über seinen Charakter oder seine Bestimmung. So bedeutet zum Beispiel der Name des Propheten Daniel: Gott hat Recht gesprochen! Das Wort „heilig“ leitet sich wiederum von dem Adjektiv „heil“ ab und kann „gesund“, aber auch „ganz“ bedeuten, wenn jemand z.B. davon spricht, dass er heilfroh ist. Heilig zu sein bedeutet in dem Sinne, ganz man selbst zu sein, bzw. genau das zu sein, was man ist und sein soll. Friedrich Nietzsche hat dafür eigens einen Imperativ formuliert: „Werde, was du bist!“ Sei also kein Schatten deiner selbst, sondern sei du selbst, indem du das wirst, wozu du bestimmt bist! Nimmt man nun beide Gedanken zusammen, dann heiligen wir den Namen Gottes dann, wenn unser Denken dem Willen Gottes entspricht und wir gemäß seinem Charakter handeln, damit wir – und durch uns die Welt – zu dem verwandelt werden, was wir in Gott bereits sind. Das kann ganz praktisch bedeuten, dass wir fair statt billig einkaufen oder uns Zeit für die Menschen nehmen, die uns nötig haben.

Es geht weiter mit: Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden – darauf bist du bereits eingegangen. Dann: Unser tägliches Brot gib uns heute!

An der Stelle wird deutlich, warum wir das Gebet im Plural beten sollen. Wir bitten nicht nur für das eigene Brot, sondern auch für das Brot unserer Mitmenschen. Anderenfalls wäre es ja auch zynisch, an einem reich gedeckten Tisch um Brot zu bitten, während andere Menschen auf der Welt verhungern. Sobald wir also versorgt sind, verkehrt sich die Bitte an Gott in eine Aufforderung an uns selber, unseren Überfluss an unsere Nächsten abzutreten. Der Religionsphilosoph Jörg Splett bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Wir haben, was wir haben, um es schenken zu können, und wir haben, was wir nicht haben, um es geschenkt zu bekommen.“ Darüber hinaus erinnert uns die Bitte aber natürlich auch daran, dass wir, weil es immer noch Gott ist, der das Korn wachsen lässt, in alledem, was wir zum Leben nötig haben, auf die Zuwendung Gottes angewiesen sind und bleiben.

Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!

Man beachte zunächst einmal die Reihenfolge. Erst vergibt Gott uns und dann vergeben wir dem Anderen. Das ist wie mit der Bitte um Brot: Nur, was wir selbst empfangen haben, können wir an Andere weitergeben. Man nehme also an, jemand schuldet mir 1.000 €, die ich selber dringend zum Leben nötig habe – wobei die 1.000 € für all das stehen, was durch die Schuld, die mir jemand angetan hat, an Lebensgüte und Lebenskraft verloren gegangen ist. Damit ich überhaupt dazu imstande bin, ihm die Schulden zu erlassen, muss ich entweder einen Anderen um 1.000 € erleichtern, der dann auch wieder den Nächsten um 1.000 € erleichtern muss usw. – oder es findet sich jemand, der mir 1.000 € schenkt. Wenn es nun im Psalm 51 heißt: „Tilge alle meine Schuld und schaffe in mir, Gott, ein neues Herz!“, dann bedeutet dies nichts weniger, als dass Vergebung, die von Gott kommt, immer ein Akt der Neuschöpfung. Wen Gott mir aber auf diese Weise neues Leben schenkt, dann besitze ich die Güte und Kraft, um auch dem zu vergeben, der an mir schuldig geworden ist.

Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen!

Eine viel diskutierte Frage lautet, ob Gott überhaupt jemanden versuchen kann, da doch zum Beispiel im Jakobusbrief steht, dass Gott niemanden versucht. Allerdings lautet die Bitte ja auch nicht „Versuche uns nicht!“, sondern „Führe uns nicht in Versuchung!“ Um zu verstehen, was damit gemeint ist, könnte es hilfreich sein, sich die Stelle im Jakobusbrief noch einmal genauer anzusehen. Dort steht im Kontext: „Gott versucht niemanden. Ein jeder aber wird versucht, wenn er von seiner eigenen Begierde fortgezogen und gelockt wird.“ Die Versuchung besteht also nach Jakobus darin, sich von den eigenen Begierden verleiten zu lassen. Überträgt man dies auf das Vaterunser, dann könnte es lauten: „Und führe uns nicht in die eigene Begierde!“ Die Frage ist dann aber, warum Gott das tun sollte? Eine Antwort könnte sein, dass es nach Jeremia 32 Gottes ganze Freude ist, uns Gutes zu tun. Vielleicht muss sich Gott also selbst darin zügeln, uns mit Gutem und Gütern zu segnen, damit unsere Gier nach noch mehr Gutem und noch mehr Gütern nicht irgendwann pathologisch wird. Wenn wir dann auch noch berücksichtigen, dass die Bitte um Erlösung vom Bösen unsere eigenen Begierden mit einschließt, dann könnte man zusammengenommen vielleicht so beten: Und erlöse mich von meiner Gier, damit ich das Gute, das du mir geben willst, genießen kann, ohne es zum Bösen zu missbrauchen.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.

Fangen wir hinten an: In der Liebesphilosophie wird seit Platon die Welt nicht als ein Werkstück betrachtet, sondern als Emanation – als Ausfluss der gestaltenden Liebe Gottes. Wenn Jesus im Johannesevangelium nun davon spricht, dass das ewige Leben darin besteht, „den zu erkennen, der allein wahrer Gott ist und den er gesandt hat, Jesus Christus“, dann ist die Ewigkeit keine Zeitspanne, sondern ein Akt der Erkenntnis, der darin besteht, dass wir uns für das Ewige öffnen, sodass es in und durch uns fließen kann. Das, was die Bibel als „Wiedergeburt“ bezeichnet, könnte in dem Sinne bedeuten, dass uns die Augen für Gott als Quellgrund dieser Welt geöffnet werden, sodass wir die Kraft und die Herrlichkeit entdecken, die aus dieser Quelle in diese Welt hineinfließt. Da man „Reich“ ja auch mit „Herrschaft“ übersetzen kann und Herrschaft wiederum darin besteht, dass einer auf den anderen Einfluss nimmt, könnte man das Ende dieses Gebets dann vielleicht auch so übersetzen: Denn dein ist die Einflussnahme durch Kraft und Herrlichkeit, an der wir teilhaben, wenn wir offen für dich sind.

Aus dem Leben

Manche wissen ja, dass bei mir vor fast zwei Jahren eine einseitige Stimmbandlähmung diagnostiziert wurde. Woher das kommt, weiß kein Mensch, um zu vertuschen, dass sie keine Ahnung haben, sprechen die Ärzte in solchen Fällen von einem idiopathischen Befund. Zudem ist mir bis heute nicht klar, wie stark das Stimmband wirklich beeinträchtigt ist. Die einen sagen, dass es nur noch ein wenig zuckt, die anderen, dass es sich zwar bewegt, aber nicht mehr ganz so gut wie das gesunde. Die Ärzte sehen das, indem sie einem eine Kamera in die Nase einführen. Das ist nicht besonders angenehm. Noch unangenehmer ist es allerdings, wenn sich die Praktikanten in der HNO-Klinik darum reißen, wer mir das Ding als Nächstes in die Nase schieben darf. Ansonsten kann ich mit der Diagnose aber relativ gut leben. Die Stimme ist vorhanden, wenngleich sie auch nicht mehr ganz so belastbar ist wie früher. Hinzu kommt, dass der Schluckapparat gestört ist, weil laut Arzt das Gehirn (irrtümlicherweise) denkt, dass mir ein Fremdkörper im Hals sitzt, an dem ich vorbeischlucken muss. Das ist aber auch nur unter Stress auffällig, im alltäglichen Normalbetrieb komme ich mit alledem ganz gut klar, oder wie es so schön heißt: Man gewöhnt sich an alles!

Wovon ich aber eigentlich berichten will, ist das Wunder, und ich nehme dieses Wort nicht häufig in den Mund, das ich im letzten Sommer in diesem Zusammenhang erlebt habe. Es fing mit einem netten Grillabend unter Freunden an. Am Grill stand mit Dirk (den Namen habe ich erfunden, um Patrick zu schützen) ein echter Hobbygrillmeister, der laut Selbstauskunft ein gutes Stück Fleisch auf drei Kilometer Entfernung am Geruch erkennt, selbst wenn er erkältet ist. Und ausgerechnet dieser Freund hat uns Steaks vorgesetzt, die nach meinem Dafürhalten so zäh waren, dass ich kurz davor war, meine panierte Schuhsohle auf den Grill zu werfen. Dieses stundenlange erfolglose Herumkauen und Herunterwürgen von mundfüllenden Fleischstücken hat dann letztlich dazu geführt, dass ich die Schluckbeschwerden plötzlich so übersteigert habe, dass ich in den Folgetagen kaum noch etwas essen konnte und mich fast ausschließlich von Trinknahrung ernährt habe. An dem darauffolgenden Samstag war es dann so schlimm, dass es mir sogar schwerfiel, einen Teller Grießbrei zu essen, den ich mir als Abendbrotersatz zubereitet hatte. (Es ist nur eine Randnotiz, aber Grießbrei schmeckt am besten, wenn man nach dem Kochen ein geschlagenes Eiweiß unterhebt). In meiner Not, und was tut man nicht alles in der Not, bin ich dann dazu übergegangen, jeden Löffel vor dem Herunterschlucken einem Teil der trinitarischen Gottheit zu widmen, da ich davon ausgegangen bin, dass Gott dann auf jeden Fall dafür Sorge tragen wird, dass das mit dem Schlucken klappt. Da ich allerdings auch mit dieser Methode nicht aufessen konnte, habe ich dann meine Bibel zur Hand genommen und Gott gesagt, dass er mir schon mitteilen müsse, wenn ich den Teller komplett leermachen soll. Die Bibel habe ich dann willkürlich an irgendeiner Stelle aufgeschlagen und das Erste, was ich gelesen habe, war: „Du sollst Gott, dem Herrn dein Speiseopfer bringen!“ Natürlich war mir sofort klar, dass eine Widmung auch als Opfer durchgeht, weswegen ich fürs Erste nicht schlecht gestaunt habe. Um jedoch sicherzugehen, dass es nicht einfach nur ein Zufallstreffer war, habe ich die Bibel dann wieder zugeklappt, um sie noch einmal an einer ganz anderen Stelle zu öffnen, und wieder war das Erste, was ich gelesen habe: „Du sollst Gott, dem Herrn dein Speiseopfer bringen!“ Das war nun tatsächlich beeindruckend, und doch weiß ich noch, dass ich Gott daraufhin gesagt habe, dass sich das mit dem Speiseopfer in meinen Ohren doch recht altbacken anhört und er mir mal lieber in gutem Deutsch sagen soll, ob ich den Grießbrei denn nun aufessen soll oder nicht. Dann habe ich die Bibel erneut aufgeschlagen und wiederum als Erstes gelesen: „Und sie aßen alle und wurden satt!“ Da der Interpretationsspielraum an der Stelle nicht mehr ganz so groß war, habe ich dann schlussendlich und, Gott zum Dank, ohne große Schwierigkeiten, den Teller leergemacht. Obwohl es mir anschließend immer besser ging, musste ich in der darauffolgenden Woche aber trotzdem noch ins Krankenhaus, um die Ursachen abzuklären. Da einem im Krankenhaus, wenn man eigentlich gesund ist, aber schnell langweilig wird, bin ich viel in den Fluren spazieren gegangen und auf diesem Weg irgendwann in der hauseigenen Kapelle gelandet. Dort lag vorne auf dem Pult eine Bibel und ich dachte noch, dass es schon komisch wäre und fast schon an Stalking grenzen würde, wenn auch dort stünde, dass ich essen und satt werden soll. Und, oh Wunder, war es in der Tat die Geschichte mit der wundersamen Brotvermehrung, die dort aufgeschlagen vor mir lag, an deren Ende es heißt: „Und sie aßen alle und wurden satt!“ Nach ein paar Tagen war ich dann wieder zu Hause und wie ich abends im Bett liege, denke ich mir, dass es irgendwie auch schade ist, dass man sich immer nur dann, wen es einem schlecht geht, Gott zuwendet und ihn, wenn es einem besser geht, dann aber auch schnell wieder vergisst. Am nächsten Morgen öffne ich dann die Tageslosung, die ich mir zu Hause eigentlich nie ansehe, und lese: „Wenn du nun gegessen hast und satt geworden bist, sollst du Gott, deinen Herrn nicht vergessen!“ Die Botschaft war angekommen, aber da Gott scheinbar denkt, dass Wiederholungen nicht schaden können, setze ich am nächsten Morgen mein reguläres Bibelstudium fort, das nichts mit der Tageslosung zu tun hat, und lese: „Wenn du nun gegessen hast und satt geworden bist, sollst du Gott, deinen Herrn nicht vergessen!“

Für mich hat das alles mit Zufall nichts mehr zu tun und ich denke sogar, dass mich diese Ereignisse Gott näher gebracht haben als eine Spontanheilung. Physische Wunder sind zwar schön und gut, und tatsächlich könnte ich auch davon berichten, dass ich eines Morgens um Heilung gebetet habe und gleich darauf bei den Stimmübungen die tiefen Töne treffen konnte, was davor unmöglich war. Aber wichtiger als das physische Wunder ist für mich dann doch die Erkenntnis, dass erstens nicht nur ich an Gottes Gegenwart interessiert bin, sondern umgekehrt, der Gott des Universums scheinbar auch ein Interesse an meiner Gegenwart hat. Und zweitens, dass ich keine anonyme Stimme aus dem Himmel gehört habe, sondern, dass Gott sein Reden in jahrtausende alte Worte verpackt hat, die meine Hoffnung nähren, dass dieser Gott, von dem die Bibel zeugt, tatsächlich existiert.

Bierdeckel-Gespräche: Über den freien Willen

Haben wir einen freien Willen oder nicht?

Das kann ich leider nicht beantworten, denn angenommen, wir hätten einen freien Willen, dann wäre der Willensakt ein singuläres Ereignis, das sich nicht reproduzieren ließe und sich daher einer Nachprüfbarkeit entziehen würde. Zudem sind wir natürlich immer an bestimmte Denk- und Handlungsmuster gebunden, die unserem Denken und Handeln vorausgehen. Daher müsste man die Frage nach dem freien Willen etwas bescheidener stellen und danach fragen, ob der gesetzte Rahmen, in dem wir denken und handeln, einen Spielraum für so etwas wie einen freien Willensakt zulässt. Wenn ich also der berühmten alten Dame über die Straße helfe, dann tue ich dies aus vielen unterschiedlichen Motiven, die mir größtenteils selbst gar nicht bewusst sind, zum Beispiel, weil ich insgeheim auf Anerkennung hoffe oder weil ich das Gefühl habe, eine bestimmte soziale Norm erfüllen zu müssen. Ob ich in diesem Sinne nur ein Spielball von Motiven bin, die dafür oder dagegen sprechen, oder an einem gewissen Punkt dann doch einer freien Willensentscheidung folge, das lässt sich nicht herausfinden, da wir, wie gesagt, der Freiheit als singulärem Willensakt nicht auf die Schliche kommen.

Wobei ich das nicht trennen würde, da es ja gerade unsere Motive sind, die uns überhaupt erst dazu motivieren, uns für oder gegen etwas zu entscheiden.

Das sehe ich auch so und vielleicht müssten wir auch noch einmal näher definieren, was Freiheit eigentlich bedeutet. Wenn ich zum Beispiel eine Spinne betrachte, die gerade ein Netz spinnt, dann ist sie insofern frei als dass sie genau das tut, was ihrem Wesen entspricht. Und doch ist sie in einem engeren Sinne natürlich nicht frei, da sie, soweit wir das wissen, in allem, was sie tut, instinktiv handelt. Anders als die Spinne, handelt der Mensch auch, aber nicht nur, gemäß seinen Instinkten, weswegen es möglich ist, dass sein Verhalten von seinem eigentlichen Wesen abweicht. Er kann sich also unmenschlich benehmen, während Tiere sich nicht untierisch benehmen können. Handlungsmotive wie zum Beispiel der kategorische Imperativ von Immanuel Kant sollen uns in diesem Sinne dazu anleiten, das Menschenwürdige zu tun und das Unmenschliche zu unterlassen.

Den weiß ich sogar auswendig: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.

Ganz genau. Entscheidend ist aber, dass er uns dazu auffordert, etwas zu tun, was wir vielleicht gar nicht tun wollen, zum Beispiel der alten Dame über die Straße zu helfen, und das gerade darin unsere Freiheit besteht. Wir sind also weder frei, wenn wir tun, was wir tun wollen, noch, wenn wir tun, was wir tun müssen, weil uns zum Beispiel jemand anderes dazu zwingt. Sondern wir sind nach Kant nur dann frei, wenn wir etwas tun, was wir nicht tun wollen, aber tun sollen, einfach deswegen, weil es das Richtige ist. Und somit darf man natürlich auch nicht den Fehler machen, Freiheit mit Willkür zu verwechseln, da Freiheit immer an ein Sollen gebunden ist – an Gesetze und Gesetzmäßigkeiten, die uns dabei helfen, das zu sein, wozu wir bestimmt sind.

Könnte es aber nicht trotzdem sein, so wie es ja auch das viel zitierte Libet-Experiment nahelegt, dass wir schon deshalb keine frei handelnden Akteure sind, weil alles, wofür wir uns vermeintlich frei entscheiden, bereits im Unterbewusstsein entschieden ist?

Wenn du das Libet-Experiment ansprichst, sollten wir kurz erklären, worum es geht. In einem Satz lässt sich der Versuchsaufbau so zusammenfassen, dass die Versuchsteilnehmer angewiesen wurden, zu einem beliebigen Zeitpunkt ihren Arm zu heben. Anhand der Messdaten hat man dann festgestellt, dass das Bereitschaftspotential, den Arm zu heben, bereits ca. 500 Millisekunden, bevor die Versuchspersonen tatsächlich ihren Arm gehoben haben, im Gehirn vorhanden war. Damit dachte man, den Beweis gefunden zu haben, dass der freie Wille buchstäblich nur ein Hirngespinst ist, da wir letztlich nichts selber entscheiden, sondern uns nur dessen bewusst werden, was im Gehirn längst entschieden ist. Interessant ist nun aber auch noch die Beobachtung, dass ca. 200 Millisekunden, bevor wir den Arm heben, die Entscheidung bereits im Bewusstsein angekommen ist. Selbst wenn wir uns also nicht frei dafür entscheiden können, unseren Arm zu heben, haben wir scheinbar zumindest eine Art Vetorecht – das heißt, wir haben ca. 200 Millisekunden Zeit, um uns dagegen zu entscheiden. Nach dem Libet-Experiment sind wir somit also nicht frei, etwas zu tun, aber wir haben möglicherweise die Freiheit, es nicht zu tun.

Und, hat das Libet-Experiment Recht mit seinen Annahmen?

Das wurde natürlich viel diskutiert. Der schwerwiegendste Einwand lautet, dass eine so einfache Handlung, wie die Hand zu heben, nicht mit den komplexen Entscheidungen vergleichbar ist, die wir tagtäglich anhand von logisch-rationalen Überlegungen treffen müssen. Aber selbst wenn wir, zum Beispiel beim Autofahren, größtenteils intuitiv handeln, haben wir diese Intuitionen ja trotzdem erlernt, und gerade dieser Umstand, dass wir lernfähige Subjekte sind, die dazu auch noch imstande sind, sich selber zu korrigieren, könnte uns zu freien Wesen machen. Vielleicht hast du ja noch die Bilder der Notlandung des Passagierfliegers auf dem Hudson River vor Augen. Nach dem Libet-Experiment könnte man sagen, dass der Pilot nicht frei war, weil er einfach nur intuitiv die Vorgaben seines Gehirns umgesetzt hat. Aber man könnte auch sagen, dass seine Freiheit gerade darin besteht, dass er aufgrund jahrelangen Trainings die Fähigkeit erworben hat, das Richtige zu tun, ohne darüber nachdenken zu müssen, was das Richtige ist.

Somit sind wir frei, weil wir Wesen sind, die bewusst auf eine Zukunft hin leben und sich darauf vorbereiten?

So könnte man das ausdrücken, ja. Bei alledem ist mir aber noch wichtig, einen Aspekt zu erwähnen, der in unserer individualistischen Kultur viel zu kurz kommt, nämlich, dass Freiheit ein Beziehungsakt ist. Das heißt, nicht ich alleine bin ein freies Wesen, sondern wir zusammen sind freie Wesen, weil wir uns gegenseitig unsere Freiheit ermöglichen. Neulich habe ich zum Beispiel einen kleinen Jungen beobachtet, der unschlüssig am Beckenrand stand und sich nicht getraut hat, ins Wasser zu springen. Seine Mutter war allerdings schon im Wasser und hat ihm Mut gemacht, es ihr gleichzutun. Und als sich der Junge dann endlich überwunden hatte, war die Mutter zur Stelle und hat ihm gezeigt, wie man sich über Wasser hält. Ich will damit sagen: Um in die Freiheit zu kommen, bedarf es einer anderen Person, die uns zur Freiheit herausfordert und in der Freiheit bestätigt. Damit ist Freiheit aber immer auch ein Glaubensakt, und zwar nicht nur, weil wir an uns selbst glauben müssen, sondern auch, weil wir denen glauben müssen, die an uns glauben.

Bierdeckel-Gespräche: Gibt es einen Gott?

Ein Gespräch über Gott macht dann am meisten Sinn, wenn es ihn gibt, daher die erste Frage: Gibt es einen Gott?

Das ist natürlich keine Frage, die man mit Ja oder Nein beantworten kann, denn wenn es so einfach wäre und man wüsste, ob es ihn gibt oder nicht, dann müsste man nicht an ihn glauben. Ich persönlich glaube aber nach wie vor, dass diese Welt nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern ein Schöpfergott sie ins Leben gerufen hat – schon alleine, weil der Satz, dass aus Nichts auch nichts werden kann, immer noch wahr ist. Weil ich gleichzeitig in der Welt Zwecke vorfinde und Ziele, die sich verwirklichen, klingt es für mich plausibel, davon auszugehen, dass die Welt von einem zweckstiftenden Willen beabsichtigt wurde.

Wenn Gott die Welt erschaffen hat, wer hat Gott erschaffen?

Ein berühmter Einwand. Er zielt darauf ab, dass wir, wenn wir von einer Ursache ausgehen, welche die Welt verursacht hat, in einem ewigen Regress landen, weil wir dann wieder fragen müssen, wer diese Ursache verursacht hat. Meiner Meinung nach ist das aber unnötig, da wir als Wesen, die in ihrem Denken in Raum und Zeit verhaftet sind, uns gar keine Vorstellung von einer Ursache machen können, die Raum und Zeit verursacht hat – und damit auch nicht wissen können, ob diese Ursache selbst verursacht wurde. Wenn wir aber das, was wir mit Ursache meinen, so definieren, dass eine Ursache eine Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt, und Gott die erste Wirklichkeit ist, der keine Möglichkeit vorausgeht, dann benötigt Gott auch keine Ursache.

Verstehe. Die Frage ist nur, ob ich mich auf der Suche nach Wahrheit überhaupt auf meinen Verstand verlassen kann? Denn er sagt mir ja nicht, wie die Welt wirklich ist, sondern nur, wie sich die Welt für mich darstellt.

Das stimmt natürlich, der Verstand bildet die Welt nicht allumfänglich ab, sondern nur den Ausschnitt, der für mich relevant ist. Farben sehe ich ja zum Beispiel nur deswegen, weil mein Verstand nur einen ganz kleinen Teil des Lichtspektrums abbildet. Allein daran wird schon deutlich, dass dem Verstand nicht daran gelegen ist, die Dinge in dieser Welt objektiv abzubilden, sondern nur in der Weise, wie es für unser Leben und Überleben von Vorteil ist. Das heißt aber natürlich noch lange nicht, dass wir nichts Wahres über die Welt aussagen können, denn dass der Apfel grün ist, obwohl die Farbe Grün erst in meinem Kopf entsteht, ist von meinem Standpunkt aus gesehen ja trotzdem eine wahre Aussage über den Apfel. Und genauso stellt sich dann in Bezug auf Gott die Frage, welche Aussagen über ihn von meinem Standpunkt aus gesehen wahr sind.

Aber dann gibt es doch so viele Wahrheiten wie es Standpunkte gibt. Öffnet das nicht einem Relativismus Tür und Tor?

Ich würde sagen, ganz im Gegenteil, denn gerade dass wir die Wahrheit von verschiedenen Standpunkten aus betrachten und uns trotzdem darauf verständigen können, was wahr ist, beweist ja gerade, dass es in dieser Welt objektive Wahrheiten gibt, die wir finden können. Wenn wir zum Beispiel beide die Augen schließen und an den Eiffelturm denken, dann würden wir feststellen, dass wir ungefähr dasselbe Gebäude vor Augen haben, auch wenn ich niemals wissen kann, wie der Eiffelturm in deinem Kopf aussieht. Und wenn wir an Gott denken, dann können wir uns über die unterschiedlichen Ideen und Vorstellungen verständigen und sind deswegen auch in der Lage, unsere Standpunkte gegenseitig zu korrigieren. Dass wir aber überhaupt dazu fähig sind, den Standpunkt des Anderen nachvollziehen zu können, spricht dafür, dass wir wahrheitsfähige Wesen sind, die ihren subjektiven Standpunkt anhand eines objektiven Maßstabs, der uns innewohnt, begründen können. Mir kommt es also nicht nur so vor, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten, sondern ich weiß, dass es falsch ist, einfach deswegen, weil es mir einleuchtet. Es ist eine Wahrheit a priori, vor aller Erfahrung, die mir mitgegeben ist.

Und in der gleichen Weise würdest du sagen, dass dir auch die Idee eines Gottes mitgegeben ist?

Ich würde sagen Ja, denn wenn ich von a priori Wahrheiten rede, die mir mitgegeben wurden, wie zum Beispiel, dass ich gut sein soll, dann stellt sich die Frage, wer sie mir mitgegeben hat. Natürlich kann man sagen, dass uns die Natur so programmiert hat, dass wir gut sein sollen, weil es uns nützlich ist, aber alleine der Umstand, dass wir mit unserer Sprache der Natur personale Eigenschaften zuweisen, deutet meines Erachtens daraufhin, dass hinter der Natur ein personaler Wille steht, der uns im Imperativ, gut sein zu sollen, begegnet. Das ist natürlich alles andere als ein Beweis für die Existenz Gottes, aber du hast ja auch nur gefragt, ob die Idee eines Gottes in uns angelegt ist – und diesbezüglich würde ich sagen, ja, wir haben eine Idee von Gott, die für uns relevant ist und sich somit von der Idee eines fliegendes Spagettimonsters dadurch unterscheidet, dass sie uns gut begründete Antworten auf die elementaren Fragen unserer Existenz liefert.

Aber beweisen können wir Gott nicht?

Ich denke, dass alle Gottesbeweise scheitern müssen, da wir mit unserem endlichen Verstand, der an die Gesetze von Raum und Zeit gebunden sind, das Unendliche gar nicht denken können. Wenn wir also Gott zu beweisen versuchen, dann nur, indem wir von den Gegebenheiten dieser Welt auf die Möglichkeit eines Gottes schließen, der diese Welt mit ihren Gegebenheiten ins Leben gerufen hat. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass wir keine Computer sind, die durch nüchternes Abwägen von Fakten zu dem Schluss kommen, dass es Gott gibt oder nicht gibt. Vielmehr keimt der Glaube meistens dort, wo wir uns als ganze Person – mit unseren Erfahrungen, Gefühlen und all unseren Verstrickungen, die uns ausmachen, selbst mit einbeziehen. Passend dazu meinte jemand einmal, dass er aus zwei Gründen an Gott glauben würde, wegen Mozart und seiner Frau. Und ähnlich geht es wohl auch Menschen, die von einer Naturerfahrung so überwältigt sind, dass sie sich in diesem Moment Gott besonders nahe fühlen. Was uns also scheinbar glaubend macht, ist nicht das Abwägen von Fakten, sondern das überwältigte Staunen über die Welt, das uns befähigt, über uns selbst hinaus etwas zu sehen, das es verdient hat, Gott genannt zu werden.

Trotzdem sagen nicht wenige Menschen, dass sie erst an Gott glauben könnten, wenn er sichtbar vor ihnen stünde.

Angenommen, Gott würde mir tatsächlich einmal leibhaftig begegnen, und wir Christen glauben ja, dass dies in der Person Jesus Christus tatsächlich passiert ist, dann könnte ich ihn zwar anfassen und mit ihm reden – aber in dem Moment, wo der unendliche Gott endlich wird, indem er in unsere endliche Welt hineintritt und uns unter den Bedingungen von Raum und Zeit begegnet, sind wir abermals gezwungen, ihm seine Gottheit zu glauben. Wie wir es also auch immer Drehen und Wenden, wir kommen über unser begrenztes Denken nicht hinaus. Wenn wir vollständig begreifen würden, wer Gott ist, dann wäre es nicht Gott, da wir das, was uns umgreift, nicht begreifen können. Gott bleibt also ein Geheimnis, wobei im Wort Geheimnis, das Wort „Heim“ steckt. Wir können Gott zwar nicht begreifen, aber wir können uns bei dem, der uns umgreift, zu Hause fühlen.

Du hast ja bereits, die Person Jesus Christus angesprochen. Was bedeutet es, dass Gott Mensch wird?

Ich denke, wenn wir überhaupt etwas von Gott wissen können, dann nur dadurch, indem er etwas von sich offenbart. Paulus schreibt, dass wir durch die Schöpfung etwas von Gott erkennen, wir haben das Gewissen, die moralischen Gebote und die heiligen Schriften, die etwas von Gott offenbaren – aber in Christus offenbart nicht nur Gott etwas von sich, sondern er offenbart sich selber. Ein Hauptargument gegen die Annahme eines Gottes lautet ja, dass Gott lediglich die Summe unserer eigenen Wünsche und Ideale ist, die wir auf ihn projizieren. Unabhängig davon, dass dies ein Zirkelschluss ist, weil er die Nichtexistenz Gottes bereits voraussetzt, lautet die christliche Antwort darauf, dass nicht wir uns auf Gott projizieren, sondern, dass Gott sich in Christus auf uns Menschen projiziert. Das also, was sich Jesus wünscht, das wünscht sich Gott und was Jesus als Ideal für diese Welt anstrebt, das ist Gottes Ideal. Wenn ich davon sprach, dass der Glaube von uns verlangt, dass wir uns selbst, mit allem, was uns ausmacht, mit hineinnehmen, dann wird das an dieser Stelle auf einmal sehr konkret. Denn auf einmal geht es nicht mehr darum, irgendwelchen Worten oder Theorien zu glauben, sondern Glaube besteht darin, dass wir dem Gott, der selbst auf dieser Welt herumgelaufen ist, hinterherlaufen.

Dazu wäre sicherlich noch viel zu sagen, aber ich denke, das verschieben wir auf später. Vielleicht fällt dir noch ein guter Schlusssatz ein?

Zusammengenommen denke ich, dass der Glaube ein Wagnis ist, auf das wir uns einlassen müssen. Wäre es für uns offensichtlich, dass es einen Gott gibt, dann würden wir dies als Faktum einfach hinnehmen, ohne, dass wir gezwungen wären, uns mit der Frage nach ihm auseinanderzusetzen. Aber ich glaube, dass wir gerade in dieser Auseinandersetzung, indem wir uns auf dem Weg machen, um mit Gott nach Gott zu suchen, die Gewissheiten finden, nach denen wir uns sehnen.